Ciao Bella! Overdenture dall'italia
Luca Cattin
Die Jüngeren werden in hoch entwickelten Gesellschaften weniger, die Älteren und Alten werden mehr. So ist es auch in Italien wie diese Fallbeschreibung belegt. Ein Blick auf »das Alter« ist für Zahnärzte und Zahntechniker gleichermaßen interessant. Laut Eurostat betrug die Geburtenrate 2015 in Italien 1,35 Kinder je Frau, in Deutschland betrug sie 1,2. Die Lebenserwartung in Italien lag im gleichen Jahr für Frauen bei 84,9 Lebensjahren, für Männer bei 80,3 Lebensjahren. Sie lag damit im selben Jahr sogar etwas höher als in Deutschland mit 83,1 Lebensjahren für Frauen und 78,3 für Männer. Die 70-jährige Patientin, die eine prothetische Versorgung ihrer beiden zahnlosen Kiefer wünschte, zählt demzufolge zur Wachstumsgruppe »65 Plus« nicht nur in der italienischen Gesellschaft. Ihr Anteil ist dort mit 21,7 % (2015) geringfügig um 0,7 % höher als in Deutschland. Das Anwachsen der »Älteren und Alten« ist in den Gesellschaften der Kern-EU längst Alltag, die Erfüllung der Ansprüche der unmittelbaren Nachkriegsgeneration, die Aufbau leistete und Wohlstand erarbeitete, bedeutet mehr Aufwand als bei vergleichbaren Generationen zuvor. Längst im zahnärztlichen Behandlungsstuhl angekommen, wünscht sie Zahnersatz auf zeitgemäßem Niveau, um besser abbeißen und kauen zu können, aber auch, um im Alter gut auszusehen.
Die mit rein schleimhautgetragenen Totalprothesen versorgte vitale 70-Jährige beklagte den schlechten Sitz ihrer Unterkieferprothese, die damit verbundene, eingeschränkte Funktion aufgrund eines auf beiden Seiten sich sehr unterschiedlich darstellenden Okklusionsebenenverlaufs einschließlich einer auf der linken Seite dysfunktional wirkenden »Kerbstellung« der Seitenzähne. Weiterhin war die Patientin unzufrieden mit der unattraktiven ästhetischen Ausstrahlung ihrer oberen Frontzähne sowie mit der Gestaltung der vestibulären Prothesenanteile. Sie wünschte sich ein natürlich erscheinendes »Prothesenzahnfleisch« und das Lächeln mit ihren Zähnen zurück, das sie einmal hatte.
Nach sorgfältiger Anamnese und Befundung entschied sich das Behandlungsteam, der Patientin im Unterkiefer eine auf vier Implantaten mit Kugelknopfankern retinierte, schleimhautgetragene Overdenture und im Oberkiefer eine neue, rein schleimhautgetragene Totalprothese vorzuschlagen. Dank des guten allgemeinen Gesundheitszustands der Patientin, dessen sie sich bewusst war, hat sie sich für diese mit häufigen Sitzungen verbundene prothetische Lösung entschieden. Ästhetik und Funktion waren es ihr wert.
Abb. 1+2: Ausgangssituation
Auf die gesetzten Implantate wurden Shero Block Normo Abutments des Herstellers Rhein ‘83 geschraubt und in situ für die individuelle Löffelherstellung abgeformt. Die beiden vorhandenen Vollprothesen wurden dupliert, um eine Orientierung für die Analyse der Ist- und Sollsituation zu erhalten. Während der Implantat-Einheilphase sollte die untere Vollprothese weiterhin getragen werden, deshalb erfolgte deren Unterfütterung mit weichem Prothesenbasiskunststoff. Während der Einheilphase siedelte sich residente Plaque an, die jedoch schnell erkannt und nach gezielter Hygieneinstruktion des Zahnarztes von der Patientin mit einer weichen Zahnbürste und Schleimhautmassage nach kurzer Zeit selbständig beseitigt werden konnte.
Abb. 3+4: Abformung ohne und mit eingesetzten Modellanalogen
Abb. 5+6: Während der Einheilphase leider residente Plaque, die jedoch schnell in den Griff bekommen wurde
Mit dem individuellen Löffel erfolgte die Unterkieferabformung mit Ausrichtungsringen auf den Implantaten für eine regulierbare und parallele Übertragbarkeit. Die Bissschablonen erhielten stabile, verwindungssteife Kunststoffbasen mit zunächst mittelwertig dimensionierten Wachswällen. Der obere Bisswall wurde zur Camperschen Ebene unter Verwendung der Bissgabel parallelisiert und die Bezugsebenenregistrierung erfolgte mit dem Gesichtsbogen. Die Einstellung und Überprüfung der Vertikaldimension erfolgte mit phonetischer Kontrolle sowie unter Berücksichtigung der vorhandenen Prothesen und nach anatomisch-physiologischen Referenzen für die Eckzahnlinien einschließlich der Ausformung der frontalen Bisswälle.
Statische Linien liefert die Modellanalyse nach Prof. Dr. A. Gerber auf den in den Artikulator orientierten Funktionsmodellen, so dass die Position der größten beiden Kaueinheiten im Unterkiefer und deren Übertragung auf das Oberkiefermodell die Position der beiden Hauptantagonisten ermittelt werden kann. Ebenso wichtig ist, zumal bei Implantat retinierten Overdentures, die Vermeidung des nach Prof. Gerber benannten Proglissements. Es betrifft die frontal gerichtete Schubwirkung auf die Prothese unter Zahnkontakt, wenn distal des ansteigenden Unterkieferasts ein statischer und/oder dynamischer Okklusionskontakt bestehen würde. Distal von diesem ermittelten Punkt wird kein Zahn mehr auf Kontakt gestellt, damit Restzähne und Implantate durch einen nach vorne unten gerichteten Schub bei jedem Schließen, Kauen und Schlucken nicht gelockert werden. Dies vermeidet auch die Gefahr von Druckstellen im frontalen, sublingualen Bereich.
Abb. 7+8: Transfer vom Abdruck mittels Ausrichtungsringen
Mit Blick auf eine möglichst lange Funktionsdauer der Implantate und die sie unterstützende Selbstzentrierung in die habituelle Interkuspidationsposition fiel die Entscheidung zu Gunsten der Zahn-zu-Zahn-Beziehung in lingualisierter Okklusion mit dem Condyloform II NFC+. Ihr Vorteil besteht u.a. in der auf die Implantatachse gerichteten Belastung, da keine A-Kontakte bestehen. Kippmomente unter statischer und dynamischer Okklusion werden dadurch reduziert. Für die Front wurde der PhysioStar NFC+ verwendet, beide von CANDULOR. Nach Maßgabe der ästhetisch-physiologischen Markierungen, der phonetisch erfolgten Ausformung der frontalen Bisswälle wurde mit der Aufstellung der Frontzähne begonnen. Die Aufstellung der in Zahn-zu-Zahn-Okklusion lingualisierten Seitenzähne folgte, um eine autonome Kaustabilität jedes einzelnen künstlichen Seitenzahns zu erzielen, die Lagesicherung der Prothese zu unterstützen. Zur Wachseinprobe wurde die alveoläre und zervikale Wachsmodellation farblich charakterisiert, um der Patientin bereits zu diesem Zeitpunkt ein möglichst realistisches optisches Erscheinungsbild ihrer späteren Prothesen zu vermitteln. Während der Einprobe wurde mit der Patientin beschlossen, in geringem Umfang kleine Abrasionsschliffe an den Inzisalkanten vorzunehmen, die unteren mittleren Inzisiven etwas zu verschachteln und die oberen Eckzähne einen Farbton dunkler zu wählen. So konnte ihr Wunsch auch mit Hilfe ihrer Fotos aus ihren verschiedenen Lebensphasen nach natürlich wirkenden, schönen neuen Zähnen dank einer vitalen und interessierten Patientenmitwirkung bereits während dieser Behandlungsphase erfüllt werden. Nach der phonetischen und ästhetischen Wachsanprobe sowie der beschriebenen Korrekturen war die Patientin bereits sehr zufrieden mit ihren »Neuen in Wachs«.
Abb. 9: Lingualisierte Kuppel-Mulden-Kontakte nach Prof. Dr. A. Gerber
Abb. 10-13: Aufstellung der Zähne
Abb. 14: Prüfung der Ästhetik in situ
Obgleich die Patientin zum Zeitpunkt der Behandlung für ihr Alter gesundheitlich erstaunlich fit war, ist zu erwarten, dass dies gegebenenfalls nicht so bleibt, d.h. die Feinmotorik für das Ein- und Ausgliedern, die Fähigkeit zur eigenständigen Prothesenhygiene etc. nachlassen könnte. Um Haltbarkeit und Funktionalität von vornherein zu gewährleisten, wurde zur Steigerung der Bruchfestigkeit der Overdenture eine Gerüstverstärkung und damit eine Verblockung der Retentionskappen mittels klassischer NEM-Gusstechnik angefertigt. Hierfür wurde zuvor der Kieferkamm im Sattelbereich mit Hohllegewachsplättchen ausgeblockt. In den Implantatbereichen wurden 0,2 mm starke Teflonstreifen appliziert, damit die Kappen während des Kauvorgangs über ausreichend Bewegungstoleranzen für die gegenüber abziehenden Kräften wirksamen Kugelköpfe aufweisen. Auf die Kugeln der Modellanaloge wurden Abstandsringe als Platzhalter gebracht, auf die dann die passenden OT-Gehäuse (Matrizen) gesetzt wurden. Im Anschluss erfolgte die Positionierung und Anpassung der vorgefertigten ausbrennbaren Kunststoff-Fertigteile. Die Verbindungen wurden mit Gusswachs modelliert, nach Entfernen der Wachsüberstände war das Gerüst bereit zur Anstiftung der Gusskanäle, es wurde in NEM gegossen. Nach dem Ausbetten wurde das Gerüst abgestrahlt, die Ansätze der Gusskanäle entfernt, die Übergänge versäubert. Die Passgenauigkeit der Matrizen wurde mit einem Kontroll-Kugelkopf-Werkzeug überprüft, das in die Matrizen eingesetzt wird. Diese Kontrolle sollte am besten unter dem Mikroskop erfolgen. Die Kunststoffkappen für die Kugelkopfanker (Patrizen) passen verwindungsfrei in das Gerüst und schließen bündig ab.
Abb. 15-17: Verstärkungsgerüst für die untere Overdenture aus vorgefertigten Teilen
Abb. 18: Das aus NEM gegossene Gerüst
Abb. 19: Überprüfung der Kappen
Abb. 20: Sitz der Kugelköpfe
In situ wurde die Gerüstkonstruktion auf spannungsfreien Sitz kontrolliert und die Platzverhältnisse für die Ersatzzähne erneut begutachtet. Im Anschluss daran erfolgte im Labor mit einem Vertikal-Fixator die Fertigstellung der Ober- und Unterkieferprothese in Kunststoff. Zur farblichen Individualisierung der roten Ästhetik wurden Farben des AESTHETIC Color Set Easy verarbeitet, um die Natürlichkeit der Gingiva und der Zahnfleischsäume wie von der Patientin gewünscht wiederzugeben. Mit Blick auf die Haltbarkeit farblicher Zahnfleisch-Charakterisierungen im Mundmilieu ist die aufwändigere Einlegetechnik erfahrungsgemäß langlebiger. Nach der Polymerisation erfolgte das Reokkludieren, hierfür wurden die Modelle mit den Prothesen in den Artikulator zurückgesetzt. Abschließend wurde fein ausgearbeitet und mehrstufig poliert, gereinigt und die Eingliederung vorbereitet.
Die für das gesamte Behandlungsteam motivierende Vitalität und Mitwirkung dieser Patientin, die ihre Erwartungen erfüllt wissen wollte, machte diese Versorgung zu einem nicht alltäglichen Erlebnis, an dessen Ende nach der Eingliederung nicht nur die Patientin sehr zufrieden war – Ciao Bella.
Abb. 21: Fertigstellung im Vertikal-Fixator
Abb. 22: Die fertige Overdenture und Totale en detail
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Luca Cattin besucht das Institut »L. Dehon« Villaggio del Fanciullo in Bologna und erhält 1993/1994 das Arbeitszeugnis als Zahntechniker.
Im Februar 2002 wird er Teilhaber des Dentallabors Unilab von Foschi, Giunchi e Cattin snc in Ravenna, wo er sich vorwiegend mit abnehmbaren Vollprothesen, Overdenture und Toronto-Bridge befasst. Er besucht verschiedene Kurse für Vollprothesen, um seine Kenntnisse zum Thema der verschiedenen Methoden bei abnehmbaren Prothesen zu erweitern.
Vortragender Rhein ‘83 und Vortragender und Kursleiter CANDULOR.
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